In einer Karikatur von Hans Traxler aus dem Jahr 1976 stehen ein Elefant, ein Affe, ein Goldfisch und andere Tiere aufgereiht vor einem Beamten, der am Schreibtisch sitzt. Er sagt: "Im Sinne einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf den Baum!" Soweit ein Klischee der Pädagogik: Die Schule soll demnach nur das prüfen, was in der Schule vermittelt wird – unabhängig davon, was die Kinder und Jugendlichen von zu Hause mitbringen. In der Karikatur wird das deutlich: Der Affe kann bereits klettern, der Goldfisch braucht Hilfe.

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Unser Schulsystem hat die Selektion als Hauptfunktion: Wer darf welche Sekundarschule besuchen? Wer darf welche Ausbildung machen, wer darf studieren? Und unterdessen versucht man, trotz sehr ungleicher Startchancen und Begleithilfen, den Schülern und Schülerinnen doch das Klettern für die Prüfung beizubringen.

In Corona-Zeiten aber ist die Schule komplett anders. Viele stellen sie sich jetzt als Zoom-Konferenz vor. In Berlin-Neukölln ist das keinesfalls so.

Im Süden des Berliner Bezirks, da wo ich an einer Gemeinschaftsschule unterrichte, stehen bürgerliche Einzelhäuser im Schatten von Wohnblocks. Während manche Jugendliche im eigenen Zimmer mit eigenem Rechner, Drucker und Highspeed-WLAN weiterlernen, haben die Kids aus der Westplatte ganz andere Themen.

Wer keinen Rechner hat, versucht die PDFs vom Smartphonebildschirm abzulesen. Wer kein heimisches WLAN hat, verbraucht das eigene Datenvolumen. Eine Kollegin berichtet, dass der Klassensprecher Can zu ihr sagte: "Frau Lehrerin, Chemie können wir nicht mehr herunterladen!" Das Geld für mehr Daten sei eben alle. Also druckt die Kollegin alles aus, schnürt Pakete im Sekretariat für jedes Kind in der Klasse (mit 1,5 Meter Abstand zu den anderen Kollegen, versteht sich), und verschickt Aufgaben für drei Wochen in zwölf Fächern mit der Post. Wie die Abgabe funktioniert, muss man noch klären. Für drei Wochen Übungsaufgaben? Das geht in Ordnung. Aber das Vermitteln neuer Inhalte kann man vergessen. Eine Videokonferenz zur Einführung und Erläuterung von neuem Stoff ist unmöglich, wenn vor dieser Konferenz erst mal die fünfköpfige Familie aus dem Wohnzimmer verscheucht werden muss.

Manche Eltern können kein PDF öffnen

Aus der Perspektive mancher Grundschullehrkräfte klingt solch eine Eigenständigkeit vielleicht sogar idyllisch. Für viele von ihnen ist nicht nur die oft fehlende oder unzureichende Technik eine Hürde, sondern auch die Eltern an sich. Einige Eltern können parallel zum Homeoffice ihr Grundschulkind begleiten und betreuen. Andere hatten noch nie Interesse daran. Und wieder andere können nicht mal ein PDF in einer Mail öffnen. Sie müssten sich erst mal mit "dem Internet" auseinandersetzen, erklären sie den Kollegen – vorausgesetzt, sie können dafür genug Deutsch. Für eine Kollegin in Nordneukölln bedeutet das: jedes Kind persönlich anrufen, um dem Kind einzeln beizubringen, wie man Apps installiert, wie man Lernforen erreicht, was ein Passwort ist und wie man eine Mail öffnet. Man stelle sich das achtstellige Passwort mit Groß- und Kleinbuchstaben, Zahlen und Sonderzeichen eines Kindes vor, das gerade das halbe Alphabet gelernt hat. 

So viele Telefonate – auch über die Osterferien – sind notwendig, um die Bindung an die Schule aufrechtzuhalten. Für ein paar Wochen mag das gerade noch gehen, aber sollten die Schulen bis zum Ende der Sommerferien geschlossen bleiben, gehen wir von einem verlorenen Schuljahr aus.